WIR WÜNSCHEN EUCH ALLEN EINEN SCHÖNEN 1. MAI!

WIR WÜNSCHEN EUCH ALLEN EINEN SCHÖNEN 1. MAI!

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Früher begannen junge Leute mit dem Gitarre-Spielen, indem sie das Riff von „Smoke on the water“ und die Akkorde für das Traditional „House of the Rising sun“ lernten. Wenn sie heute mit Instrumenten anfangen, lassen sie sich dazu gerne durch Lieder von Tocotronic anspornen.

Diese höfliche, müpfige , fröhlich schöpferische Band übt hierzulande einen überall spürbaren Einfluss aus. Musikalisch und modisch versorgt sie Jungs und Männer mit dem Selbstbewusstsein, dass Madonna bis heute an Mädchen und Frauen weitergibt.

Der Gitarrist Rick McPhail findet mit Leichtigkeit prägnant erzählende Töne. Er setzt sie wie Punkte und Kommas auf und zwischen Strophen und Refrains. So verwandelt er einen Entwurf in einen Song.

Der Bassist Jan Müller hat ein romantisches Verhältnis zu Musik, die apart aus der Zeit fällt. Er ist der aufgeschlossenste Rock-Fan der Band. Sein Bass klingt wie das Auge des Sturms in den Songs von Tocotronic.

Der Schlagzeuger Arne Zank reist schon mal auf die andere Seite der Erdkugel, um Klänge zu entdecken wie seltene Schmetterlinge. Anschließend kehrt er als musikalischer Antipode zurück, um in angenehmen Bars in Berlin-Kreuzberg interessante, sonderbare Klanglandschaften vorzustellen.

Der Sänger Dirk von Lowtzow steht morgens auf und hat einen Song fertig. Er frühstückt und hat einen zweiten Song fertig. Dann geht er um den Block und telefoniert vielleicht kurz. Wenn er mittags nach Hause zurückkommt, ist die Demo-Version eines dritten Songs so gut wie aufgenommen.

Über mehr als 20 Jahre haben diese Protagonisten ihre Band immer weiter getrieben. Mit den erstaunlichsten Ergebnissen. Wenn heute jemand Tocotronic kritisiert, wirkt das, als würde er sich mit dem Horizont anlegen.

Die an Glanztaten und Überraschungen reiche Geschichte von Tocotronic findet nun ihre Fortsetzung mit einem weiteren Höhepunkt, einem wonnepoppigen Werk, in dem alles drinsteckt. Wirklich: alles. Kindheit, Jugend, Aufstand. Wahnsinn und Gefängnis. Kondenswasser, das auf die Selbsterkenntnis tropft, Plasma, das aus der Hand wächst. BMX-Räder, alte Freunde, eleganter Mut und wilde Gefahren.

In 12 Songs und einem Hidden Track behandeln Tocotronic drei zentrale Anliegen: Liebe, Erinnerung und noch mehr Liebe. Den Rahmen bildet das ganze Leben. Es beginnt mit einem Hinweis darauf, wo alles anfängt, nämlich im Heimatort Langeweile, den es zu verlassen gilt. Der Sänger kommt darauf, dass er das schafft, indem er den „Erwachsenen“ mit Selbstbewusstsein begegnet: „Wir spucken ihnen ins Gesicht.“

So wird er zum „Rebel Boy“, der anderen bei den zärtlichsten Gelegenheiten begegnen will, auch wenn es dort zum Slapstick kommen sollte: „Unter deiner Decke fasst mich das Chaos an.“ Durch das Fenster des Schlafzimmers sieht er welche, die „unter Spießbürgern Spießruten“ laufen. Von ihrem Anblick lässt er sich anregen, ein Pop-Künstler zu werden. Einer, der Pop-Thesen aufstellt: Es irrt sich jeder, der meint, „dass man die Welt vom Müll befreien muss.“

Der Rebel Boy und Pop-Künstler wird zur Diva, fühlt sich „zeitweilig verstorben“ und hat schließlich „ein Date mit Dirk“ in einer Science Fiction-Landschaft.

Tocotronic sind in jedem Teil dieser Konzept-Story musikalische Könner, die mit den unterschiedlichsten Stilen jonglieren. Wenn sie wollen, klingen sie wie Depeche Mode. Wie Pavement, wenn sie schwelgen. Wie trotzige New Order. Wie aufgekratzte Aztec Camera. Oder wie die Stranglers, die sich mit den Smiths zusammentun, um Paint it black von den Rolling Stones zu spielen.

Mit ihren riesigen Fähigkeiten, mit schlafwandlerischer Sicherheit und nicht zuletzt durch die Arbeit des Produzenten Moses Schneider und Sounddesigner Markus Ganter greifen Tocotronic mal eben in unsere Gegenwart ein. Sie verändern die Zeit. Etliche Dinge, die es noch gibt, wirken auf einmal, als hätte es sie mal gegeben. Darunter eine Musik, die in den letzten Jahren vielen Gelegenheit bot zu bekunden, wie viel Mühe es macht, mit sich selbst verheiratet zu sein.

Diesen sogenannten „Diskursrock“ verabschieden Tocotronic nun auf freundlichste Weise. Damit beginnt etwas Neues. Das rote Album schleudert uns dorthin, ins Offene, liebe Freundinnen und Freunde.

Die Schlussfolgerung aus dieser Intelligenzkonsenslieblingsmusik liegt auf der Hand: Hier ist DIE Pop-Platte von Tocotronic.

Ein Album wie ein Paradigmenwechsel. Und der wirkt sich auf jeden aus, selbst den Info-Schreiber, den es zu einem Songtext angeregt hat. Er singt zur Melodie vom „Prolog“:

1.

 Ein paar Lieder ohne Eile

vertreiben mehr als Langeweile

Zauberlust liegt in der Luft

Wie ein leichter, milder Duft

Schönste Musik für eine kurze Weile

Von hier bis zur nächsten Zeile

Und dann weiter durch Mark und Bein

Du bist schön, um wahr zu sein

2.

So kommst du in eine Stadt aus Licht

Alles ist zugänglich

Hier gibt es nicht nur WLAN, 

sondern auch eine Platte wie ein Ozean

Du musst sie dir nicht mehr wünschen

Alle Leute werden jetzt Menschen

Nicht einer von ihnen bleibt noch länger stumm

Unterm Pflaster liegt die Erinnerung

3.

Dort fließt Musik wie aus einer Quelle

Sie klingt wie das Ding auf der Schwelle 

Wenn es sagt: Ich bin der letzte Schrei

Mein Kopf ist meilenweit

Drumrum ein Glanz, ein wilder Schimmer

Ein freundlicher, bunter Flimmer

Und ein Hauch von süßer Logik

Das Red Album von Toco

Kristof Schreuf