Tocotronic – Die Unendlichkeit
“Ich erzähle dir alles / Und alles ist wahr” – Electric Guitar
Wollte man dem zwölften Album von Tocotronic ein Motto geben, könnte das “Öffnung und Rückblick” sein oder “Verletzlich und frei”. Es handelt von dem, was war; dem, was ist und dem, was sein wird. Es heißt DIE UNENDLICHKEIT und ist DEEP!
Es ist ein doppeltes Konzeptalbum. Jedes Stück weist spezifische, zeitgebundene musikalische Referenzen auf und hat seinen Ausgang im Werden und Sein.
Es ist eine Biografie. Ein Ansatz, den Tocotronic 15 Jahre lang abgelehnt haben. Aber einmal gefunden, erwies sich die Vorgabe, über das eigene Leben zu schreiben, als äußert produktiv. Wobei das Album keinesfalls eine individualistische Nabelschau geworden ist. Denn es erzählt von allgemein gültigen, wenn nicht existenziellen Erfahrungen: von Angst, Verliebtsein, Einsamkeit und Tod. Mit dieser neuen Art von Songwriting geht eine andere Sprache einher. Eine, die keine Verklausulierungen duldet. „Ein bisschen haben wir uns zuletzt sicherlich hinter Manifesten, Theorie-Referenzen und dem Formalismus versteckt“, sagt Dirk von Lowtzow.
DIE UNENDLICHKEIT aber ist auch ein Neubeginn.
Das Biografische also, das auf dem letzten, dem roten Album, mit Stücken wie „Ich öffne mich“ oder „Jungfernfahrt“ schon angelegt war, wird hier zum konzeptuellen Ansatz: Von der Kindheit über die Adoleszenz und frühe Erwachsenenzeit bis in die Gegenwart. Nach 25 Jahren Bandgeschichte heißt das auch: Die Hälfte dieser Zeit hat mit Tocotronic selbst zu tun. Mehr als das halbe Leben.
Das Eröffnungs- und Titelstück sowie das orchestrale „Mein Morgen“ bilden das Vor- und Nachwort, eine Klammer für das aufwendig produzierte, bislang musikalisch differenzierteste und abwechslungsreichste Album der Band.
„Tapfer und Grausam“ handelt von der frühen Kindheit, dem Gefühl des Ausgeschlossenseins und der Herzlosigkeit anderer Kinder. „Hey Du“ erzählt vom Anderssein in der Fußgängerzone der Provinz, vom Beschimpft- und Vermöbeltwerden, aber auch vom unverhohlenen Stolz, modisch aufzufallen. „1993“ führt zurück ins Gründungsjahr der Band, dem Auszug aus der Hölle Heimat in Richtung Hamburg.
Form und Inhalt kommen zur Deckung: Dirks Stimme klingt hier viel heller und jünger als auf den Stücken, die von späteren Ereignissen und Lebensphasen erzählen. Jan Müllers Bass und Arne Zanks Schlagzeug bollern wie in den Anfangstagen der Band, Rick McPhails Gitarre jault.
Auf die Saufexzesse in den dunklen Hamburger Kaschemmen und eine beginnende Sucht folgt ein Umzug nach Berlin. „Ausgerechnet du hast mich gerettet“ erzählt von dieser Errettung, wobei mit dem “Du” statt der Stadt – “nicht schön, doch auch kein Biest” – auch eine geliebte Person gemeint sein könnte.
Weil jede Lebensphase ihre spezifische Musik hat, verbeugt sich auch jedes der Stücke in Richtung einer Band oder eines Stils, die oder der in dieser Phase wichtig und einflussreich war. Die musikalische Zeitreise beginnt bei den Beatles-Songs der Kindheit, gleitet über das Orff’sche Schulwerk bis hin zu 80’s Gitarrenpop, Dub und Progrock.
Auch hier erwies sich das vermeintlich enge Korsett eines Konzepts als befreiend. Es ist eine Hintertür, durch die der stilprägende Tocotronic-Sound plötzlich an Hüsker Dü oder Roxy Music erinnern kann. Ersteres in „Ich lebe in einem wilden Wirbel“, einem Lied über die erste große Liebe und das Gefühl, „durch sie über die Dörfer fliegen zu können“. Letzteres in „Bis uns das Licht vertreibt“, das um das Gefühl hysterischer Einsamkeit kreist und um viele gerauchte Zigaretten.
DIE UNENDLICHKEIT ist auch ein historisches Deutschland-Porträt. Da sind die Koordinaten einer Provinz-Pubertät, das von Apfelkorn befeuerte Rumlungern an der Bushaltestelle und die RAF-Fahndungsplakate, in der Coming-of-Age-Hymne „Electric Guitar“, die gleichzeitig auch ein Geburtstagslied zum Hundertjährigen des Instruments ist. „Für mich war die Gitarre das erste Mittel der Subjektivierung und Inszenierung”, so Dirk von Lowtzow. „Vieles von dem, was für Tocotronic später wichtig werden sollte, wurde da schon angelegt.“ Das Bordtelefon im ICE, das in „Unwiederbringlich“ auftaucht, einem Stück über das Sterben eines engen Freundes, erinnert an eine Zeit, von der aus gesehen die Technik, mit der wir kommunizieren, als Science Fiction erscheint.
„Mein Morgen“ wiederum hat diese Endzeit-Grundierung der 80er-Jahre, die unter dem Eindruck des Kaltem Kriegs, Tschernobyls und des Waldsterbens herrschte und die derzeit wieder so gegenwärtig wirkt. Nächste Ausfahrt Apokalypse. „Ich würd’s dir sagen“ schließlich ist eine Art dunkles Kinderlied über Begehren, erotische Phantasmen und Todessehnsucht.
Zu Ende geht das Album mit einem Stück, das wie zum Trotz noch einmal einen klassischen Tocotronic- Slogan liefert: „Alles, was ich immer wollte, war alles“. Und darum geht es in DIE UNENDLICHKEIT: um nicht weniger als alles.
Anne Waak