Jolly Goods „Walrus“ (Staatsakt/Rough Trade) Voe 23.09.11

Unterwasserseelen

„The time has come, the Walrus said / To talk of many things: / Of shoes and ships and sealing wax/ Of cabbages and kings / And why the sea is boiling hot / And whether pigs have wings.“, so reimt Lewis Carrolls in „The Walrus and The Carpenter“, jenem wundersamen Gedicht aus „Alice behind the Mirrors“ das John Lennon einst zum Text von „I am the walrus“ von den Beatles inspiriert haben soll.

Nun kommt nach langen Jahren also endlich mal wieder ein unter majestätischen Fettschichten verborgenes Walross heraufgerobbt ‐ auf die Scheiben, die unsere Welt bedeuten: Die Jolly Goods, jenes fauchende, bis unter die Säbelzähne mit musikalischem Können bewaffnete laute, triumphierende Schwestern‐Duo, einst in Rimbach geboren,  um von dort von ihrer Noiserockmusik angetrieben nach Berlin zu fliehen. Diese Google‐Recherche nach einem kulturellen Kontext im Meer der unendlichen Möglichkeiten mag für manch einen erheiternd gewesen sein ‐ aber sie tut natürlich nichts zur Sache. Einfach gar nichts. Es ist und bleibt oberflächliches Auskennergeschwafel um Rock‐Historie bemüht. Und eben nur eine abgestaubte, faule Recherche eines bequemen Autors.

Bei dem zweiten Album der Jolly Goods aber geht es schlichtweg um Aktualität! Um Expression. Um Dynamik. Um Sturm. Und um wütende Reaktion. Um die Millisekunden vor, während und nach dem Urknall! Ohnmächtig vor Schmerzen erhallt hier im unendlichen Chaos, das jedem Moment auf diesem Planeten inne wohnt, ein rauschhafter Strom, in den man sich im Sinne Kurt Smith oder Patti Cobains an Land mit seinen jaulenden Instrumenten hineinbegibt, während die Trommeln der Verdammnis jedes Kettenglied der freiwilligen Gefangenschaft auf Erden zum Klirren bringen:

„Don’t change your ways!  Don’t change your life! Don’t change your ways! Don’t change your life“ brüllt Gitarristin und Sängerin Tanja Pippi in „Try“ und beschwört sich selbst wie in einem heidnischen Stechapfelrausch, während Schwester Angy unerschütterlich die Trommelfelle in der Garage bearbeitet. Es ist erstaunlich zu hören, wie sehr die Jolly Goods mit diesem Album im Jahr 2011 schockieren können. Und wie unselbstverständlich diese Musik zwischen Riot Grrrl, Noiserock und Folk dabei daher kommt. Wie sehr hier mit Rockgitarre, Schlagzeug und einem vor Euphorie und Hysterie überschlagendem Gesang an der Raufaser-tapete der Gesellschaft gekratzt wird. Während sich die Musikerkolleg_Innen im Indielalaland zwischen Formatradio tauglichem Discopunk und wohltemperierter Kammermusik in gespieltem Wohlklang und Biedermeiertum üben und sich die Musik einfach nicht mehr vom Klangteppich einer dümmlichen Anti‐Aging‐Creme‐Werbung unterscheiden lässt, sprießen hier in jeder Sekunde buchstäblich gemeine Pickel auf die Oberfläche der verlogenen Saubermann‐Popspassgesellschaft: Pickel der Vergiftung ‐ eine allergische Reaktion auf das Leben an Land. Selbst die versöhnlichen Momente ‐ erweitert um das Hochkultur‐Instrumentarium Klavier, Orgel, Kontrabass oder Glockenspiel ‐ lassen einen in ihrer schauderhaften Schönheit eher an eine Kurzgeschichte von HP Lovecraft denken, als anirgendwas mit Liebe.

Dass ausgerechnet Dirk von Lowtzow mit diesem Album sein Debüt als Produzent gibt, macht diese Platte umso erstaunlicher. Der Tocotronic‐Sänger sieht sich selbst bei diesem Album zwar mehr als so etwas wie ein Produktionspraktikant, aber wen sonst hätten die Jolly Goods im Studio um Rat fragen sollen, als jenen verdienten Künstler, der bereits in den 90er Jahren dem Jungsrockding ins Gesicht gähnte. Und das auch noch Hans Unstern im Chez Cherie‐Studio in der Berliner Sonnenallee als Produzent zugegen war macht das Bild perfekt.

Wir fassen – langsam zum mitschreiben – noch einmal zusammen: „Walrus“ ist einwütendes, sonisches Noiserockalbum mit schaudrig‐schönen Folk‐Momenten produziert von Dirk von Lowtzow und Hans Unstern.

Hier jetzt weiter auf dem feministischen Background von zwei jungen, erwachsenen Frauen im Wirtschaftssegment Rock mit dem Wissen um Punkrock, also Do‐It‐yourself einzugehen wäre in etwa so überflüssig wie der Hinweis auf das Vorhandensein von Würsten und Bier in einem Schützenfestzelt…

„O Oysters, said the Carpenter / You had a pleasant run! / Shall we be trotting home again? / But answer came there none / And this was scarcely odd, because / They’d eaten every one. “ Auch das Jolly‐Goods‐Walross stürzt sich gerade in eine solche Fressorgie. Es fängt gerade erst an in einladender Dekadenz Austern zu schlürfen und Champagner zu trinken. Dieses queere Borderline‐Walrus läd auf seine Eisscholle ein: I’m a free walrus again, Floating on the ice floe Captain of the universe That you build. And I Constantly Destroy

Seine Seele aber bleibt ein Unterwasserwesen…

Maurice Summen.

www.jollygoods.org